In einem Moment erhalte ich von meinen Freunden in Gaza erschüt-
ternde Nachrichten über Massensterben und Vertreibung. Im nächs-
ten Moment bin ich krank vor Sorge um meinen entführten israeli-
schen Freund.
Von Samah Salaime 13. Oktober 2023
An jenem verfluchten und blutigen Samstagmorgen wollte ich glauben, ich würde
mich in einem unerträglichen Albtraum befinden, – dass ich sehr bald aufwachen
und alles vorbei sein würde und ich zu einem weiteren normalen und langweili-
gen freien Tag zurückkehren würde. Aber nein. Wir – Israelis und Palästinenser,
Juden und Araber, hier in Israel, jenseits des Trennungszauns in Gaza, im Süden,
im Zentrum, im Norden, in Jerusalem, im Westjordanland und überall – finden uns
in einer schrecklichen Realität wieder, die das Atmen unmöglich macht. Herz und
Verstand können sich dem Grauen, ausgelöst durch die Leichen, die Verwundeten
und die Gefangenen, nicht entziehen.
Wir wussten an diesem Tag, dass eine massive, grausame und grenzenlose israe-
lische Reaktion die Pforten der Hölle öffnen würde. Für mehr als 2 Millionen
Menschen, von denen die überwiegende Mehrheit, genau wie wir, unter völligem
Schock steht. Ihre einzige Sünde besteht darin, dass sie seit 16 Jahren im Gaza-
streifen unter Belagerung leben – unschuldige Menschen, die den schrecklichen
Preis für Israels »Rache« zahlen werden.
Die moralischste Armee der Welt machte sich sofort an die Arbeit, ihre zerstörte
Ehre zurückzuholen und zum Angriff überzugehen. Die ungezügelten Angriffe
des Militärs mögen den Durst der Seele stillen, die sich nach der Vernichtung der
Menschen auf der anderen Seite des durchbrochenen Gaza-Zauns sehnt, aber wir
– Israelis und Palästinenser – werden wahrscheinlich in dem vergossenem Blut er-
trinken.
Seitdem lebe ich in zwei parallelen Welten. In der einen sehe ich TikTok-Videos,
Instagram-Beiträge und erschreckende Posts von Bürgern im Süden Israels, die
die maskierten Bewaffneten, die in ihre Häuser eingedrungen sind, anflehen, ihr
Leben zu verschonen, bevor sie massakriert werden. Bilder von ermordeten Kin-
dern, älteren Erwachsenen, Frauen und Männern. Verlorene Kinder, entführte äl-
tere Frauen und eine verängstigte Mutter, die zwei Kleinkinder im Arm hält und
sich nach Erlösung sehnt.
Kein Mensch kann mit solchen Situationen umgehen im Angesicht des sicheren
Todes im Keller des Hauses, auf dem Küchenboden, neben dem Bürgersteig, auf
dem Weg zum Fluchtauto. Das ist wahrer Terrorismus: in einen Ort einzudringen,
der angeblich sicherer ist als jeder andere und das Feuer auf die Hilflosen zu er-
öffnen. Für diese Tat gibt es keine andere Definition.
In der anderen parallelen Welt laufen in meinem Kopf Videos von Zerstörung, Be-
schuss, verstümmelten Leichen und ganzen Familien, die unter den Trümmern
ihrer Häuser umkommen. Videos über »eiserne Schwerter« (der Name, den das
israelische Militär seiner »Operation« in Gaza gegeben hat), Beton und Erde,
unter denen die Leichen der Palästinenser in Gaza begraben werden sollen. Väter
rennen mit ihren blutenden Babys in den Armen und Mütter schreien vor
Schmerz und Verlust in den brennenden Straßen von Gaza.
»Der Tod kommt von allen Seiten“.
Der Angriff der israelischen Luftwaffe dauert nun schon seit Tagen an. Überall
gehen Granaten, Raketen und Bomben nieder. Von meinem Haus im Zentrum des
Landes aus höre und sehe ich die israelischen Kampfjets, die über uns hinweg-
fliegen, einen nach dem anderen. Mein Sohn hat ein Gespür für die Geräusche
des Krieges entwickelt: Eine israelische Bombe erschüttert die ganze Gegend
und wird von heftigen Blitzen begleitet, die Raketen der Hamas erzeugen einen
viel schwächeren und kürzeren »Knall« und wenn der Iron Dome die Rakete ab-
fängt, sieht man die Explosion in der Luft, wie einen Pilz am Himmel.
Einerseits verfolge ich die Nachrichten über die Vermissten und Ermordeten aus
dem Naqab/Negev, über jüdische Freunde und Bekannte, die online nach Ver-
wandten suchen, und über eine ganze Beduinenfamilie – darunter vier Kinder -,
die im Naqab ohne eine nahe gelegene sicheren Zufluchtsort lebt und getötet
wurde. Andererseits habe ich versucht, über WhatsApp mit meinen Freunden aus
Gaza zu sprechen, Frauen, die ich vor zwei Monaten in den Flüchtlingslagern
kennengelernt habe, um mich zu vergewissern, dass sie noch am Leben sind.
»Meine Onkel lebten in dem großen Palästina-Turm, der zuerst bombardiert wur-
de«, sagte eine von ihnen. »Sie erhielten einen Anruf von der Armee, die sie auf-
forderte, das Haus zu verlassen und sie verließen es nach fünf Minuten. Alle Be-
wohner sahen ihre Häuser vor ihren Augen einstürzen. Den Onkeln geht es gut,
einige von ihnen sind auf der Straße, in Schulen, bei Familienmitgliedern, aber
auch dort ist es gefährlich. Am zweiten Tag [der Bombardierungen] gab es keine
Warnungen, die Bomben fielen vom Himmel und das war’s. Der Tod kommt von
allen Seiten, jeder kann jeden Moment sterben. Wenn ich überlebe, wird sicher
jemand anderes aus meiner Familie sterben.«
Eine andere Frau aus dem Flüchtlingslager Al-Maghazi erzählte mir: »Ich habe
bei zwei Bombardierungen 15 Familienmitglieder verloren. Mein Bruder und sei-
ne Kinder hatten keine Zeit mehr, das Haus zu verlassen. Neffen und Cousins
hatten sich alle in einem Stockwerk versteckt. Bislang wurden sieben Leichen ge-
funden, ich weiß nicht, wie und wann wir sie beerdigen werden.«
Aus dem Flüchtlingslager Deir al-Balah schrieb mir eine Aktivistin des Frauen-
zentrums: »Wir warten auf den Tod und beten, dass er schnell sein wird. Es gibt
kein Wasser, keinen Strom und kein Essen. Die Menschen werden belagert, und
vielleicht wird die Welt jetzt verstehen, dass wir hier seit Jahren gefangen gehal-
ten werden«.
Und ein weiterer Freund sagte: »Natürlich ist [der Angriff der Hamas] entsetz-
lich. Wir alle haben Angst vor diesem Krieg. Der Schlag gegen die Israelis ist
sehr hart und du weißt, dass ich hasse, was die Hamas uns seit Jahren antut. Is-
rael beschießt uns alle ein bis zwei Jahre und tötet dabei seit 15 Jahren Tausen-
de. Aber vielleicht gibt es eine kleine Hoffnung, dass der Tod all der Märtyrer,
die fallen werden, nicht vergebens sein wird, dass sie vielleicht in der Lage sein
werden, dieses Mal einen echten Waffenstillstand im Austausch für die Geiseln zu
erreichen und nicht nur eine elende Hudna [Waffenstillstand oder Waffenruhe] –
eine Hudna ohne Freiheit, ohne die Möglichkeit, sich zu bewegen, ohne Grenz-
übergänge, ohne die Möglichkeit, einen Lebensunterhalt in Würde zu verdienen,
wenn man auf hundert Dollar aus Katar wartet, die die Hamas verteilt. Die Welt
und vor allem die Israelis werden verstehen, dass wir nicht ewig gefangen gehal-
ten werden können«.
Zuflucht in Ramallah angeboten
Während ich an diese schwierigen Gespräche mit meinen Freundinnen in Gaza,
die in ein paar Stunden vielleicht nicht mehr am Leben sein werden, dachte, er-
hielt ich die Nachricht, dass meine Freundin Vivian Silver aus dem Kibbuz Be’eri
entführt worden war. Ich stöberte in meiner Korrespondenz mit ihr und konnte
kaum atmen, als ich mir vorstellte, wie sie sich auf dem Weg zu einem unbekann-
ten Ort irgendwo in Gaza befindet, umgeben von maskierten Männern.
Vivian ist eine Friedensaktivistin, eine mutige Frau mit einem wunderbaren Sinn
für Humor, die sich stets weigerte, aufzugeben. Sie setzte sich für die Beendi-
gung der Belagerung ein und wünschte sich die Tage zurück, an denen sie Gaza
frei besuchen konnte. Ich redete mir ein, dass wir uns immer noch gemeinsam
Witze über ihre Erfahrungen in der Gefangenschaft erzählen könnten. Sicherlich
wird sie zurückkommen, sagte ich mir.
Die Namen der 13 ermordeten Beduinen wurden veröffentlicht, gefolgt von der
Liste derjenigen, die aus dem Naqab [Negev] entführt und vermisst wurden. Auf
der Pressekonferenz, die von den Angehörigen der Geiseln veranstaltet wurde,
habe ich ihre Familien nicht gesehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir aus
den uns allen bekannten Gründen nichts über ihr Leid erfahren werden.
Und als ob die palästinensischen Bürger Israels nicht schon genug unter diesem
Trauma zu leiden hätten, kommt noch die Angst vor Gewalt ihnen gegenüber hin-
zu, verursacht durch Juden. Palästinensische Mediengruppen in so genannten
»gemischten Städten« – deren Einwohner sich noch nicht von dem Trauma der
Ereignisse vom Mai 2021 erholt haben – haben Notfallhinweise herausgegeben,
wie man sich in einer gemischten und brodelnden Umgebung verhalten soll, wäh-
rend in den hebräischen sozialen Medien Nachrichten verbreitet werden, die zur
Gewalt gegen Araber aufrufen.
Meine Kinder haben mich davor gewarnt, in den hebräischen Medien aufzutre-
ten, weil sie der Meinung sind, dass jede Botschaft für Frieden, Koexistenz, Soli-
darität und ein wenig Vernunft jetzt keine Veränderung bewirken wird, sondern
nur die Familie so gefährden kann, wie es während des Gaza-Krieges 2014 ge-
schah.
Eine Freundin aus Bil’in, in der Nähe von Ramallah im besetzten Westjordanland,
rief an, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Sie hatte gehört,
dass die Raketen der Hamas auch uns erreicht hätten und dass Siedler mit Ra-
cheakten gegen uns drohten. »Die armen Leute dort drüben, die Araber in Is-
rael«, sagte sie mir. »Ihr werdet von allen Seiten angegriffen. Was auch immer
ihr tut, es wird euch treffen. Kommt mit den Kindern für ein paar Tage zu mir.«
Eine Palästinenserin aus Ramallah bietet einer Palästinenserin aus Israel Zu-
flucht, weil sie befürchtet, dass diese von Hamas-Raketen oder von wütenden Ju-
den, mit denen sie zusammenlebt, angegriffen werden könnte.
Mein Kopf schwirrt von diesen Gedanken über diesen verfluchten und komplexen
Ort, in den wir hineingeboren wurden und über die erbärmliche Führung auf bei-
den Seiten, die uns – ein menschliches Gefüge, das so reich, so traurig und
gleichzeitig so lebenswichtig ist – ins Nichts führt. Mein Herz und mein Verstand
haben einen völligen Stopp, einen Stillstand erklärt. Ich kann nicht mehr! Ich
brauche einfach Stille.
©Übersetzung: Lühr Koch, Freunde von Neve Shalom ∙ Wahat al-Salam e.V.
https://www.972mag.com/palestinian-citizens-israel-gaza-war/